11.10.2016 – Ein Gleitschirmflieger sah sich genötigt, auf einem Baumwipfel notzulanden. Er kletterte danach den Baum hinunter und verletzte sich beim Aufkommen auf den Boden. Der Oberste Gerichtshof befand, dass die Funktion eines Luftfahrzeugführers erst dann als beendet angesehen werden könne, wenn das Luftfahrzeug so verlassen worden ist, dass auch die unmittelbar mit dem Luftverkehr verbundenen Gefahren beendet sind. Erst das „Erreichen festen Bodens“ hätte zur Beendigung der flugtypischen Gefahren und damit zum zeitlichen Ende des in den Bedingungen festgeschriebenen Risikoausschlusses geführt. Der Versicherer sei in diesem Fall leistungsfrei.
Herr E. war laut einer aktuellen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs (OGH) im Juni 2013 zu einem Gleitschirmflug gestartet. Bei dem Flug verlor er aufgrund von Turbulenzen an Höhe und entschloss sich deshalb zu einer (Not-)Landung. Mangels anderer Alternativen steuerte er den Wipfel einer zirka 40 Meter hohen Tanne an und landete auf ihr.
Er rief per Handy den Rettungsdienst an und teilte diesem mit, er sei unverletzt, werde den Gleitschirm im Rucksack verateuen und dann den Baum hinunterklettern. Er befürchtete nämlich, dass der Rettungsdienst – wenn dieser mit dem Hubschrauber kommt – durch den Luftwirbel den Gleitschirm aus der Tanne herausreißen und beschädigen könnte.
Vom Wipfel aus konnte E. nicht erkennen, dass die Tanne in ihrem untersten Bereich keine Äste hatte. Er rutschte daher die letzten fünf bis sechs Meter den Stamm hinunter, nachdem er zuvor den Rucksack zur Seite geworfen hatte.
Beim Aufkommen auf dem Boden verletzte er sich und informierte den Rettungsdienst, der ihn mit Hubschrauber und Seil barg und ins Krankenhaus flog.
Forderung nach Schadenersatz
E. hatte einen Bruch des rechten Sprungbeins, des rechten Fersenbeins sowie des ersten und zweiten Lendenwirbels erlitten und wollte nun eine Entschädigung in Höhe von 24.280,58 Euro s.A.
Die Forderung führte zu einem Rechtsstreit mit dem Versicherer. Dem Unfallversicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Bedingungen für den Premium-Unfallschutz (AUVB 2006) zugrunde, die unter anderem eine Deckung für Unfälle als Luftfahrzeugführer ausschließen.
OGH 7Ob120/16x – Auszug aus den AUVB 2006
1. Kein Versicherungsschutz besteht für Unfälle
1.1.
der versicherten Person als Luftfahrzeugführer (auch Luftsportgeräteführer) soweit sie nach Österreichischem Recht dafür eine Erlaubnis benötigt sowie als sonstiges Besatzungsmitglied eines Luftfahrzeuges und bei der Benützung von Raumfahrzeugen.
…
1.8.
Bei der Ausübung folgender gefährlicher Aktivitäten bzw. Sportarten:
Bergsteigen/Klettern mit außergewöhnlichem Risiko (z.B. Eisfallklettern)
… |
E. vertrat den Standpunkt, er sei nicht mehr „Luftfahrzeugführer“ im Sinn der Versicherungsbedingungen gewesen, als er sich entschlossen habe, den Baumstamm hinunterzurutschen.
Zum Zeitpunkt des Unfalls sei er „Baumkletterer“ gewesen, der Vorfall hätte sich ebenso ereignet, wenn er zuvor die Tanne hinaufgeklettert wäre.
Versicherer: Risikoausschlüsse und Unfallfolgen-Abwendungspflicht
Der Versicherer argumentierte hingegen, der Unfall sei als untrennbares, durch die Notlandung eingeleitetes Gesamtereignis zu werten. Die von E. als Luftfahrzeugführer heraufbeschworene besondere Gefahrensituation sei durch die Notlandung noch nicht gebannt gewesen, weshalb kein Versicherungsschutz bestehe. Zudem greife der Risikoausschluss des Kletterns mit außergewöhnlichem Risiko.
Außerdem, so der Versicherer, wäre E. gemäß § 183 VersVG verpflichtet gewesen, nach Möglichkeit für die Abwendung der Unfallfolgen zu sorgen, nämlich sich vom Rettungsdienst aus dem Baumwipfel bergen zu lassen und nicht den gefährlichen Abstieg von der Tanne zu wagen.
Der OGH muss entscheiden
Das Erstgericht wies E.s Klagebegehren ab. Das Berufungsgericht gab dessen Berufung nicht Folge, ließ die ordentliche Revision aber zu, weil zum einschlägigen Risikoausschluss und dessen Reichweite noch keine OGH-Rechtsprechung vorliege.
Der OGH stellte zunächst fest, dass E. bei der Verwendung seines Gleitschirms Luftfahrzeugführer (Luftsportgeräteführer) im Sinn des Abschnitts K, Ziffer 1.1. der AUVB 2006 war.
Der Zweck des (sekundären) Risikoausschlusses nach Abschnitt K, Ziffer 1.1. bestehe für jeden durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer darin, den Versicherungsschutz für Personen dann auszuschließen, „wenn diese über die für einen bloßen Fluggast bestehenden allgemeinen Risiken des Luftverkehrs hinaus noch berufsbedingt oder freiwillig im Zusammenhang mit dem Luftsport zusätzlichen Gefahren ausgesetzt sind“.
„Luftfahrzeugführer ist man vom Start bis zur folgenden Landung“
Luftfahrzeugführer sei man „vom Start bis zur folgenden Landung“. Demnach gehöre auch der Vorgang des Verlassens des Luftfahrzeugs noch zu dessen Verwendung, „können doch auch damit – wie der zu beurteilende Unfall anschaulich zeigt – ganz spezifische Gefahren verbunden sein“.
Der Flug und damit die Funktion eines Luftfahrzeugführers können, so der OGH, erst dann als beendet angesehen werden, wenn das Luftfahrzeug so verlassen worden ist, dass auch die unmittelbar mit dem Luftverkehr verbundenen Gefahren beendet sind.
Daher führe hier bei der Verwendung eines Gleitschirms nicht schon eine Notlandung oder das Zusammenlegen des Gleitschirms, sondern erst das „Erreichen festen Bodens“ zur Beendigung der flugtypischen Gefahren und damit zum zeitlichen Ende des Risikoausschlusses nach Abschnitt K, Ziffer 1.1.
Nicht nur „normaler“ Baumkletterer gewesen
E.s Ansicht, es habe sich nicht eine unmittelbar mit dem Flug verbundene, sondern nur die nicht flugtypische Gefahr des „normalen“ Baumkletterers verwirklicht, erachtete der OGH als unzutreffend.
Vielmehr sei es so, dass E. ohne die flugbedingte Notlandung „weder den Baumwipfel erreicht hätte noch in die Verlegenheit gekommen wäre, einen ca. 5 m langen Abstieg (ein Abrutschen) über einen dort astlosen Baumstamm zu wagen“.
Unfall fällt unter Risikoausschluss
Im Ergebnis folge, dass die Vorinstanzen den Risikoausschluss nach Abschnitt K, Ziffer 1.1. zu Recht bejaht hätten. Auf den Risikoausschluss nach Abschnitt K, Ziffer 1.8. und auf Pflichten des Versicherungsnehmers nach § 183 VersVG sei bei dieser Sachlage nicht mehr einzugehen, befand das Höchstgericht.
Die Entscheidung 7Ob120/16x des Obersten Gerichtshofs vom 31. August 2016 kann im Rechtsinformationssystem des Bundes im vollen Wortlaut nachgelesen werden.